CHRISTIAN SCIENCE

Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr

Die Tochter von Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr, damals auf Studienreise in Chile, saß bei einem Latte Macchiato im Café, als sie trotz der großen räumlichen Entfernung spürte, was in ihrer Mutter im fernen Deutschland gerade vorging: “Mama”, sagte sie später am Telefon, “Ich habe das Gefühl, dass Deine Zeit an der Universität abgelaufen ist.” Und wirklich: Während die Tochter in ihren Brownie biss, starrte ihre Mutter, damals Universitätsprofessorin an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, gedankenverloren auf den blinkenden Cursor ihres Bildschirms. Der Dekan hatte sie wegen einer wichtigen Angelegenheit um Unterstützung gebeten. Schon wollte sie eine Mail zurückschreiben, und plötzlich war es da, dieses untrügliche Gefühl von Klarheit und großer innerer Ruhe. Auf einmal wusste sie, die sie als Vorsitzende den Promotionsstudiengangs ihrer Hochschule verantwortete, dass ein neuer Schritt anstand. Sie wusste, dass sie auf eine Bilderbuchkarriere an der Hochschule mit all den Annehmlichkeiten, Privilegien und Sicherheiten, von denen sie als Professorin auf Lebenszeit profitierte, verzichten würde. “Es war der Tag, an dem ich wusste, dass ich gehe.” Noch während sie das sagt, schaut Annette Kreutziger-Herr mit heiterer Gelassenheit über die weiß gedeckte Tafel. Ihr lächelnder Blick ist ein wenig nach innen gerichtet und scheint doch jede und jeden persönlich anzusprechen.

 

Eine wahre Geschichte - der Passionsweg einer mutigen Frau

Man spürt sogleich, dass das, was zunächst wie gutes Storytelling klang, eine wahre Geschichte ist. Die wahre Geschichte der Annette Kreutziger-Herr, die uns ihren inspirierenden Weg beschreibt, eine Komposition aus Brüchen und Neuanfängen, aus unerwarteten Wendungen und doch in der Gesamtschau konsequent - und man ahnt es - voller Wunder, die jeder und jedem von uns das Leben schenkt, wenn wir dazu bereit sind.

 

Schon bei ihrer ersten Hochschulassistenz war Annette Kreutziger-Herr die einzige Frau in ihrem Institut an der Universität Hamburg, nachdem sie einen Master- und Promotionsstudiengang in Mediävistik, in Italianistik, den Kulturwissenschaften, ja sogar in der Musikwissenschaft absolviert hatte. Dabei ist sie selbst das beste Beispiel einer Frau, die es (nicht nur) im Unibetrieb weit gebracht hat: eine von der Studienstiftung des Deutschen Volkes geförderte Promotion und eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnete Habilitation ermöglichten Annette Kreutziger-Herr eine langjährige Lehrtätigkeit in Musikwissenschaft, Kulturwissenschaften und Gender Studies an verschiedenen Universitäten und Colleges im In- und Ausland, u.a. am King’s College, London, und am Smith College, Northampton, Massachussetts.

 

Warum Frauen nicht Trompete spielen können...

In den Zeiten ihrer Promotion fiel ihr bereits auf, wie unterrepräsentiert Frauen sowohl in der historischen Forschung als auch Publikationsgeschichte waren. Von den mehr als 4000 Komponistinnen Europas hört und sieht man wenig, und dann diese vielen bizarren Mythen, berichteten ihr Kolleginnen an der Hochschule für Musik und Tanz Köln: “Frauen können nicht Trompete spielen, weil die Gebärmutter zuviel Resonanz wegnimmt.” Oder: “Frauen können keine fünf Stunden Götterdämmerung durchhalten, sie schwitzen so wenig.” Und so war ihre Forschung stets geprägt von einem Nachdenken über die Musik im besonderen und von der Reflexion über Gegenstände der Kulturwissenschaft im allgemeinen - den Ausspruch des Musikphilosophen Ludwig Wittgenstein stets leitmotivisch im Blick: “Die Tatsachen gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung.”

 

Lebe Deinen Traum

Unermütlich getrieben von der Frage, wie Fakten entstehen und wie sich diese voneinander unterscheiden lassen, fand Annette Kreutziger-Herr zu ihrer heutigen Tätigkeit in der christlich-wissenschaftlichen Praxis. “Wir glauben uns zu kennen, und doch hat jeder von uns eine individuelle Wahrheit, die wir für unumstößlich halten”, sagt sie. „Es gibt eine übergeordnete Wahrheit, und wenn wir uns mit ihr vertraut machen, kommen wir voran.“ So hilft Kreutziger-Herr ratsuchenden Individuen dabei, die eigene, die individuelle Wahrheit von einer übergeordneten Wahrheit zu unterscheiden. Und dies bezieht sich auf alle Dimensionen des Seins, von Lebensumbrüchen, Drogenabhängigkeit, physischen Herausforderungen bis hin zu Beziehungskrisen. Den Star-Dirigenten Claudio Abbado begleitete sie zu dessen Zeiten als Chefdirigent der Philharmoniker als Beraterin auf seinem Weg. Im Grunde genommen ist ihre Beratungstätigkeit im Spannungsfeld zwischen Christlicher Wissenschaft, Therapie, Beratung und spiritueller Heilung die konsequente Weiterentwicklung ihrer früheren Arbeit und der damit verbundenen Begegnung mit Menschen. Einst waren es neben ihren Forschungsschwerpunkten Studierende, die sie auf deren Weg unterstützte und beriet und denen sie zuhörte. Heute kommen in ihre gediegene Charlottenburger Privatpraxis oftmals Menschen in Krisen- oder Umbruchsituationen, die ihren Rat suchen. Hier wie dort begeistert sie es, zu erleben, wie Menschen nach einer Beratung mit ihr erneut Hoffnung schöpfen, wie sie aus einer scheinbar ausweglosen Situation kraftvoll hervorgehen, nach dem “Hinfallen” wieder aufstehen und den Blick nach vorne richten. Zwischen den Beratungsphasen spielt Gebet eine zentrale Rolle, das sich anlehnt an die Definition von „Das Gute“ aus dem Bibelkommentar Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy: „Das Gute. Gott. Geist. Allmacht; Allwissenheit; Allgegenwart; alles Wirken.“ Wie damals der Vater eines ihrer Studierenden, der Medizin studierte, nur, weil die Eltern es so wollten. Es machte ihn unglücklich; seine Beziehung zerbrach. Weil er sich seinen Lebenstraum erfüllt, indem er eine Tango-Schule aufmachte, die bis heute sehr erfolgreich läuft. In ihren Beratungs- und Therapie-Sitzungen beginnt sie immer mit dem Ziel, in der unerschütterlichen Überzeugung: Das Gute gibt es.

 

Was Mathematik mit dem Leben zu tun hat

Eine ihrer Leitfiguren ist Mary Baker Eddy, die durch einen Unfall zur Bibel fand und mit ihren Schriften einen Schlüssel für die Erklärung biblischer Heilung liefert. Religion war schon für die heranwachsende Annette Kreutziger-Herr eine wichtige Begleiterin und so durchdringt Religion bis heute sowohl ihr Leben als auch ihre Arbeit. Vergleichbar mit den Prinzipien der Mathematik gebe es Gesetzmäßigkeiten im Leben, erklärt Kreutziger-Herr: “Beispielsweise, dass unsere Entscheidungen uns meistern, welche Richtung sie auch nehmen werden. Mary Baker Eddy sagte dies 1875, und Henry Ford formuliert denselben Gedanken fünfzig Jahre später erneut so: Ob Du denkst, du kannst es, oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall recht behalten.” Einen praktischen Zugang dazu, wie man also zu guten Überzeugungen finden und einen Weg aus verfahrenen Situationen finden kann, bietet aus ihrer Sicht Paulus in seinem Brief von die frühchristliche Gemeinde in Rom: „Richtet Euch nicht länger nach den Maßstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist.“ Dass diese Lernbereitschaft und die damit verbundene innere Überzeugung einen starken Einfluss auf Erfolg und Misserfolg im Leben hat, davon ist Annette Kreutziger-Herr überzeugt und bekommt hierfür ständig neue Beweise in der täglichen Arbeit mit ihren Klientinnen und Klienten: Das Leben ist nicht bis ins Letzte vorbestimmt - wir Menschen sind sehr wohl in der Lage, uns Handlungsspielräume zu schaffen. Kreutziger-Herr untermalt ihre Worte immer wieder mit Gesten. Zuweilen stößt das Silberarmband mit dem markanten Stern - Zeichen ihrer Verbundenheit mit dem Judentum - leise klimpernd gegen das Tischtuch. Annette Kreutziger-Herr ist Mitglied im Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus, und Gründungsmitglied im Verein European Thinking e.V.

 

Neben ihrem ehrenamtlichen Engagement widmet sich Annette Kreutziger-Herr ihrer weiteren Leidenschaft, dem Schreiben. Ihre christlich-wissenschaftliche Veröffentlichungshistorie ist inzwischen sogar länger als ihre kulturwissenschaftliche Publikationsliste. Seit mehr als 35 Jahren schreibt die passionierte Autorin Artikel und Gedichte, gestaltet Radiosendungen und verfasst Texte, darunter mehr als 20 Artikel für den Christian Science Monitor. Man merkt, Kreutziger-Herr ist Kulturwissenschaftlerin und Denkerin durch und durch. Und so entfaltet ihre Rede in ihrer Komplexität, ihren Rückblenden und Exkursen, ihrem Innehalten und den philosophisch anmutenden Reflexionen eine fast meditative Wirkung. Dessen ungeachtet nimmt sie ihre Zuhörerschaft immer mit, gleich, wie unwegsam die thematischen Gefilde auch sein mögen. Und unvermittelt spürt man selbst mit unverbrüchlicher Gewissheit: Es gibt noch mehr, als wir denken, zwischen Himmel und Erde.

 

“Vergiss nicht, wer Du bist, wenn keiner guckt”

Der Mensch ist in sich vollständig und repräsentiere das so genannte “höhere Gesetz, die göttliche Dimension”. Schon Jesus fordere in der Bibel die goldene Regel zu beachten: “Liebe Deinen nächsten, wie Dich selbst.” Wir leben heute in einer Kultur, die uns permanent zwinge, durch “likes und dislikes” etwas gut oder nicht gut zu finden. Aber darum gehe es doch nicht im Leben: Es gehe nicht darum, etwas anzunehmen oder abzulehnen. Es gehe immer darum, etwas Neues zu verstehen. “Vergiss nicht, wer Du bist, wenn keiner guckt”, habe ihre Mutter früher immer zu ihr, der kleinen Annette, gesagt. Gleichzeitig steht sie heute dem Toleranzbegriff etwas kritisch gegenüber, impliziere Toleranz doch meist auch ein Fünkchen zur Schau getragene Kritik an der Sache, die nur mühsam kaschierte Überwindung latenter Ablehnung. Echte Akzeptanz sei das Ziel, in der Familie, in der Gesellschaft. Sie spricht sich aus für mehr echte Wertschätzung und Zugewandtheit, für Transparenz und Partizipation und für die aufrichtige Hinwendung zur Vielfalt der Menschlichkeit, reflektiert auch in der Vielfalt der Religionen, denn - so unterstreicht sie mehrfach: “Keine Religion ist ein monolitischer Block.”

 

Mehr Wissen für mehr Vielfalt - was Religion heute und morgen für die Schulen bedeutet

Auch an den Schulen dürfte man über einen neuen Ansatz beim Religionsunterricht nachdenken, wie es nun auch gerade in Berlin geschehe. Zentral für den Religionsunterricht seien Fragen, die sich um das Thema Respekt rankten - wenn dies gelinge, könne Religionsunterricht an den Schulen den Einstieg zu mehr Vielfalt bieten. Annette Kreutziger-Herr lebt nicht nur im Job, was sie predigt: Gemeinsam mit ihrem Mann unterstützt sie für eine lokale Gemeinde der Christlichen Wissenschaft in Berlin und fördern u.a. die Schule Sunrise of Africa in Kenia und den Landmine Relief Fund in Kambodscha - einer von Christlichen WissenschaftlerInnen begründeten furchtlosen Initiative. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Koordinierungskreis des Berliner Forums der Religionen und Weltanschauungen und ist Mitglied in der Werkstatt der Religionen in Berlin, die im Haus der Werkstatt der Kulturen beheimatet ist. Fundamentalismus habe keine Chance, sobald Zugang zu Wissen geschaffen werde, sagt sie. Was auch das Wissen über sich selbst miteinschließt. Das sind auch gute Nachrichten für Frauen, deren Gleichstellung ihr besonders am Herzen liegt. Um es mit einem Aphorismus der Schriftstellerin Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach zu sagen, die dies auf der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert trefflich auszudrücken verstand: “Als die erste Frau lesen lernte, kam die Frauenfrage in die Welt.”

 

Ein inspirierender Montagabend dieser 22. Mai 2017. Er endet mit einer weiteren Passion von Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr: Kaffee.

 

Weitere Informationen unter www.kreutzigerherr.com

 

Text: Clarissa-Diana Wilke